Als die Amerikaner im Jahr 2008 Darmstadt verlassen hatten, verwaiste ihr 1954 erbautes Wohngebiet, die „Lincoln-Family Housing“, kurz „Lincoln-Siedlung“ genannt. Dieses 244.000 Quadratmeter große Gelände zwischen den Stadtteilen Bessungen und Eberstadt ist umzäunt, eine Lindenallee entlang der Heidelberger Landstraße bildet die östliche Grenze. 33 Gebäudezeilen mit 588 Wohnungen, Schulen, Turnhallen und Kindergärten standen plötzlich leer – eine Riesenchance für das wirtschaftlich boomende Darmstadt, die steigende Nachfrage nach Wohnungen zu befriedigen. Doch das brauchte seine Zeit.
Jenseits des Zauns bot sich Autofahrern und Fußgängern sieben Jahre lang der Anblick unbewohnter, akkurat nebeneinander stehender Wohnblocks in einheitlichem Hellgrau und verschmutzten Beige- und Ockertönen. Einer wie der andere – wie geklont. Einziges Unterscheidungsmerkmal waren die turmartigen Badanbauten an einigen Blocks.
Aber ab 2014 erlebten die Zaungäste eine Überraschung. Ein Teil der Bauten wurde abgerissen. Der Bebauungsplan sah hier Neubauten, neben Wohngebäuden auch Tiefgaragen, eine neue Schule und eine geänderte Straßenerschließung vor. Andere Bauten hatten eine so gute Substanz, dass sich ihre Sanierung lohnte. Nach und nach verschwanden die langweiligen Außenfassaden und machten einem heiteren neuen Erscheinungsbild mit heller Grundfarbe sowie raffiniert platzierten Farbakzenten Platz.
Was war geschehen? Im Herbst 2015 hatte die bauverein AG begonnen, in einem Baufeld mit Bestandsgebäuden sechs Gebäudezeilen für die Vermietung herzurichten. Mit den Planungs- und Sanierungsarbeiten wurde das Ingenieurbüro Wandrey aus Darmstadt beauftragt. Als freie Mitarbeiterin wirkte die Architektin Rosemarie Schorr nicht nur hierbei mit, sondern erhielt auch den Auftrag, den monotonen Einheits-Look aufzulockern. Jede Häuserzeile sollte sich von der anderen zwar unterscheiden, jedoch nicht abgrenzen. Eine gemeinsame Note musste erkennbar bleiben.
Manche der dreigeschossigen Häuser haben einen Anbau, andere nicht. Ihre 70 Meter langen Fronten sind innerhalb der Bautypen identisch, obgleich die Grundrisse der einzelnen Häuser variieren. Die neuen Fassaden sollten auf Wunsch des Auftraggebers bauverein AG farblich dem Zeitgeist entsprechen, jedoch auch zum Baumbestand, den Balkonen, den dunkelbraunen Eingängen und den braunen Satteldächern passen. Nichts sollte die künftigen 300 Bewohner der 108 Wohneinheiten an die einstige Monotonie der „Lincoln-Siedlung“ erinnern.
In Abstimmung mit Dipl.-Designerin Martina Lehmann vom Caparol FarbDesignStudio entschied sich die Architektin für ein kühles Weiß als neutralen Grundton (Fassadenfarbe Muresko Silacryl) für alle Häuser. Gemeinsam ist allen der graue Sockelanstrich, der sich wie ein einendes Band von Haus zu Haus zieht. Die Eingänge wurden mit kräftigen, vertikalen Farbstreifen links und rechts der Treppenhausverglasung markiert. Diese Betonungen machen deutlich, dass jeder Block trotz des einheitlichen Gestaltungsrasters eigentlich aus drei Häusern besteht.
Ohne groß überlegen zu müssen, sollen die Bewohner – und ihre Besucher – ihr Haus auf Anhieb erkennen. Daher prägen drei Farbrichtungen in Rot, Gelb und Blau die Wohnblöcke. Sie helfen bei der raschen Orientierung und verleihen den Fassaden ihre individuelle Note. Passend zu einer dieser Hauptfarben, die in Eingangs- und Treppenhausbereichen zum Einsatz kamen, wurden jeweils drei Akzentfarbtöne ergänzt, die in Sättigung und Helligkeit variieren. Auf diese Weise wird eine spannende, jedoch unaufgeregte Wirkung erzielt – im Gegensatz zu einer reinen Ton-in-Ton-Gestaltung.
Beim roten Block korrespondiert ein leuchtendes Rot mit Orange, kühlem Hellgrau und einem vergrauten Rosa. Das helle Grau wiederholt sich als Akzentfarbe auch am gelben und blauen Wohnblock. Das Farbspektrum der gelben Häuser umfasst ein oranges und sonniges Gelb mit Beigebraun. Beim blauen Block sind Petrol, Blaugrau und Hellblau prägend.
Interessant ist, dass sich die Farbrichtungen der Häuser zwar wiederholen, aber die Gestaltung der Akzentflächen variiert. Das hat zum Teil mit der Gebäudearchitektur zu tun, da einige Häuser Anbauten haben. Charakteristisch sind die abgesetzten oberen Geschosse und Farbflächen, die meist vier Fenster miteinander verbinden. Die Wohnblöcke wirken so optisch niedriger und durch die klare, farbliche Gliederung insgesamt freundlich und einladend.
Bevor die sechs Häuserzeilen farblich durchkomponiert wurden, konnten Rosemarie Schorr und Martina Lehmann einen Teil ihres Fassadenkonzepts an drei Bestandsgebäuden an der Noackstraße erproben, die für studentisches Wohnen im ersten Bauabschnitt saniert werden sollten. Die Akzentfarben sind hier anders eingesetzt. Sie fassen die Fensterreihen zu langen Bändern.
Zwei Giebelseiten an der Noackstraße lenken die Blicke auf sich. Auf Anregung der Geschäftsleitungen der bauverein AG und der BVD New Living GmbH und Co. KG, einer hundertprozentigen Tochter der bauverein AG, sind sie mit 45 Quadratmeter großen Porträts von Albert Einstein und Abraham Lincoln plakativ gestaltet. Der Darmstädter Spraykünstler Elmar Compes hat die beiden Charakterköpfe im Stil von Andy Warhols Serigrafien aus Grauwerten und Schwarz dargestellt und Gelb-orange umrahmt. Einstein symbolisiert die Wissenschaft. Der bärtige Namensgeber Lincoln aber wird wohl bald die einzige Erinnerung an die ehemalige „Lincoln-Siedlung“ der Amerikaner sein.
Bautafel
Objekt: Stadtentwicklungsprojekt Lincolnsiedlung Darmstadt, www.lincoln-siedlung.de
Erbaut: 1954, Saniert ab 2014 bis heute
Auftraggeber: Bauverein AG, Darmstadt
Planer: Architekturbüro Rosemarie Schorr, Rödermark
Caparol-Außendienst: Peter Weidmann
Farbberatung: Dipl.-Des. Martina Lehmann, Caparol FarbDesignStudio
Produkte: Muresko Silacryl, Farbtöne aus der Caparol 3D-Farbtonkollektion
Kurzfassung
Die Lincoln-Siedlung befindet sich in Darmstadt in der Heidelberger Landstraße. Auftraggeber der Sanierungsarbeiten ist die bauverein AG. Für die Fassadengestaltung verantwortlich sind das Architekturbüro Rosemarie Schorr (Rödermark) und Martina Lehmann vom FarbDesignStudio von Caparol (Ober-Ramstadt). Um die technische Beratung kümmerte sich der Planer und Objektberater Peter Weidmann.
Die Hauptfarbe der sanierten ehemaligen amerikanischen Wohnkasernen in der Darmstädter „Lincoln-Siedlung“ ist 3D Kühlweiss (Fassadenfarbe: Muresko Silacryl). Die Sockel aller Häuser wurden mit 30 Jura 20 gestrichen. Bei den Blocks mit roter Farbtonausrichtung sorgen 3D Magma 100, 3D Papaya 135 und 3D Magma 50 für Akzentuierung und Auflockerung. Bei den blauen Blocks sind es 3D Verona 100, 3D Arctis 80 und 3D Pacific 15. Das gelb dominierte Spektrum setzt sich zusammen aus 3D Amber 100, 3D Curcuma 110 und 3D Onyx 5. 3D Venato 50 taucht als zusätzliche Akzentfarbe in jeder Farbkonstellation auf.
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